Die Lebensbedingungen in der Schweiz verschärfen sich, auch für Haushalte mit zwei Vollzeiteinkommen. Gemeinnützige Organisationen stellen fest, dass die Zahl der Bedürftigen zunimmt und es schwierig ist, mit der Nachfrage Schritt zu halten.
Die Hälfte der Schweizer Bevölkerung hat ihre Kaufkraft in den letzten fünf Jahren stark abgenommen - fast jeder Dritte meldet einen «starken Rückgang». Dies geht aus einer repräsentativen Umfrage hervor, die von watson zusammen mit dem Institut Demoscope durchgeführt und diese Woche veröffentlicht wurde.
Die Erhebung zeigt, dass viele Schweizerinnen und Schweizer ihr Verhalten anpassen mussten, um mit den steigenden Preisen umgehen zu können.
Die vor Ort tätigen gemeinnützigen Organisationen wissen das nur zu gut. «Wir haben festgestellt, dass sich die Lebensbedingungen vor allem für die einkommensschwächsten Bevölkerungsgruppen verschärft haben», sagt Alain Bolle, Direktor des Centre social protestant (CSP) in Genf. «Wir beobachten den gleichen Trend», sagt Aline Masé, Leiterin Sozialpolitik bei Caritas Schweiz.
«Viele Haushalte, die nach der BFS-Definition nicht als arm gelten, haben ebenfalls Mühe, über die Runden zu kommen»
«Vor Ort beobachten wir Realitäten, die die globalen Indikatoren sehr oft verbergen», bestätigt Fabien Junod, Präsident von Cartons du Coeur Romandie. «Ein wachsender Teil der Bevölkerung ist durch den starken Preisanstieg geschwächt».
Kinder und arme Arbeitnehmer
Nach Aussage der befragten Beamten ist eine Arbeit keine Garantie mehr, um aus der Armut herauszukommen. «Wir sehen Haushalte, die trotz zweier Vollzeiteinkommen einfach nicht mehr in der Lage sind, ihr Budget auszugleichen», sagt Fabien Junod. Die Zahl dieser «Working Poor» ist auf dem Vormarsch. «In den Caritas-Lebensmittelgeschäften gibt es immer mehr», merkt Aline Masé an.
«Wenn man sich die Zahlen des BFS ansieht, wundert uns das nicht», fügt sie hinzu: «Heute sind 8% der erwerbstätigen Menschen von Armut betroffen oder bedroht. Die Lebenshaltungskosten steigen, während ihre Löhne stagnieren».
Infolgedessen schrumpfen die Ersparnisse der Menschen. Laut unserer Umfrage können mehr als 40% der Schweizerinnen und Schweizer kein Geld mehr beiseite legen. In Genf haben fast 30% der Bevölkerung keine Ersparnisse, versichert Alain Bolle. Folge:
«Diese Personen können in Schwierigkeiten geraten, sobald sie eine unvorhergesehene Rechnung bezahlen müssen»
«Alleinerziehende Familien sind ebenfalls stark armutsgefährdet», bemerkt der Direktor des SPZ Genf und erinnert daran, dass ihre Zahl im Kanton Seeufer besonders hoch ist. «In der Schweiz sind Kinder zu einem echten Faktor der Prekarität geworden», ergänzt Fabien Junod.
Anstieg der Lebensmittelpreise
Alle sind sich einig, dass die Ausgaben für Miete und Krankenversicherung die größten Belastungen für die privaten Haushalte darstellen. Sie können auch ein Armutsrisiko für Menschen der sogenannten «Mittelschicht» darstellen , analysiert Aline Masé. Sie weist jedoch darauf hin, dass diese Bevölkerungsgruppe «sehr breit und schwer zu erfassen ist».
Parallel dazu weist Alain Bolle darauf hin, dass eine beträchtliche Zahl von Menschen Hilfe benötigt, um Zugang zu lebensnotwendigen Gütern zu erhalten. «Wir stellen fest, dass einige Menschen die Anzahl der Mahlzeiten während des Tages reduzieren müssen und dass Kinder außerhalb der Schulkantine nicht richtig gefüttert werden», ergänzt er.
Die lange Zeit der Inflation, die die Schweiz gerade durchgemacht hat, hat in der Tat tiefe Spuren auf den Nahrungsmittelpreisen hinterlassen. Fabien Junod illustriert:
«Ein Kilo M-Budget oder Preis-Garantie Pasta kostete im 2019 ca. 0.65 Franken. Nach einem Hoch bei 1,40 sinkt der Preis heute nur noch um rund 1,20 Franken. Das preiswerte Pflanzenöl ist von rund 2.50 Franken im Jahr 2019 auf über 5.20 Franken am höchsten gestiegen und liegt aktuell bei rund 3.50 Franken.» Fabien Junod
Diese Situation spiegelt sich deutlich in den Zahlen wider. Seit fast 30 Jahren verzeichnen die Cartons du Coeur ein relativ stabiles jährliches Wachstum von rund 8 bis 12%, erklärt sein Direktor. «In den letzten zwei Jahren ist die Nachfrage jedoch in einigen Regionen um 30% bis 35% gestiegen», fügt er hinzu. «Das ist beispiellos».
Wenn sich vor der Pandemie einige Signale bemerkbar gemacht haben, so ist es wohl seit der Covid-Zeit, dass die Dinge schief gelaufen sind, sagen uns die drei Verantwortlichen. «Seit dem Covid stellen wir fest, dass die Caritas-Lebensmittelgeschäfte eine steigende Nachfrage und Rekordumsätze verzeichnen», erklärt Aline Masé.
Überlastete Dienste
Angesichts dieses massiven Anstiegs des Bedarfs geben die drei Organisationen an, dass es ihnen schwerfällt, mit der Nachfrage Schritt zu halten. «Wir leben in einer Krisensituation, die uns gezwungen hat, den Zugang zu sozialen Dienstleistungen einzuschränken», bedauert Alain Bolle. «Die kommunalen Sozialdienste sind ebenfalls stark gefordert und teilen diese Erkenntnis».
Auch bei Caritas ist der Trend «eindeutig besorgniserregend»: «Es gibt in den regionalen Caritas mehrere Sozialberatungen im ganzen Land, die überlastet sind», ergänzt Aline Masé, während Fabien Junod sagt, dass seine Organisation «an die Grenzen gegangen ist».
Der Präsident von Les Cartons du Coeur kritisiert die fehlende konkrete Unterstützung seitens der Behörden, insbesondere des Kantons Waadt. «Wir übernehmen eine Rolle, die zumindest von der öffentlichen Hand unterstützt werden sollte», erklärt Fabien Junod.
«Stattdessen arbeiten wir ausschließlich dank der Großzügigkeit der Bevölkerung, einiger Unternehmen, der ehrenamtlichen Arbeit»
Der Verantwortliche weist auf eine «Kluft» zwischen der Situation vor Ort und den Behörden hin, deren «Entscheidungen nicht mit der Realität verbunden sind». «Wenn unsere Organisation existiert, dann bedeutet das, dass der Staat seine Arbeit nicht getan hat», schließt er.
Source : Whatson